Demokratie in der Schule
Erziehen wir unsere Kinder zu autoritären Menschen?
Die ehemalige Piraten-Politikerin Marina Weisband will Schülerinnen und Schülern Demokratie beibringen und ihnen Verantwortung geben. Ein Gespräch über Antisemitismus, Schule – und Mitbestimmung per Handy-App
Marina Weisband in ihrer Wohung in Muenster
Marina Weisband will jungen Menschen mehr Verantwortung übertragen
Maximillian Mann/laif
Aktualisiert am 24.04.2024
8Min

Sie sind Jüdin und Antifaschistin. Werden Sie bedroht?

Marina Weisband: Ja. Wie alle Anti­faschistinnen, die ihre Stimme erheben, habe ich mit Drohungen und Belästigungen zu tun. Aber ich habe mir inzwischen ganz gute Netze aufgebaut, um das abzufangen.

Und wie?

Ich lese meine E-Mails nicht mehr selbst durch. Ein Assistent macht das für mich. Wenn ich Morddrohungen erhalte, erstatte ich Anzeige und der Staatsschutz ermittelt.

Als prominente Jüdin werden Sie ­ oft zum Thema Antisemitismus ­befragt. Nervt Sie das, weil ja Strate­gien gegen Antisemitismus eine ­Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft sein sollten?

Ich habe immer etwas dagegen, wenn ich gefragt werde, wie ich Antisemitismus persönlich erlebe. Oder wenn ich einen Fall schildern soll, der besonders schlimm war. Das finde ich nicht angebracht, weil das was von Voyeurismus hat. Aber natürlich komme ich als öffentlich tätige Jüdin und Analytikerin nicht umhin, mich mit dem Phänomen von Antisemitismus auseinanderzusetzen. Und dann finde ich es völlig legitim, mich zu fragen, wodurch er befördert wird, welche Formen er heutzutage annimmt. Weil ich dazu nicht nur als Betroffene etwas sagen kann, sondern auch als Person, die sich zwangsläufig sehr, sehr viel mit dem Thema auseinandersetzt.

Marina WeisbandBastian Bringenberg

Marina Weisband

Marina Weisband wurde 1987 in Kiew geboren, kam als Sechsjährige nach Wuppertal. 2011 wurde sie Politische Geschäfts­führerin der Piratenpartei. Mit ihrer ­frischen und schlagfertigen Art ­avancierte sie zum Liebling der Medien. Im April 2012 gab sie ihr Amt ­wieder ab. Weisband setzt sich heute für die Demokratie-­Initiative "Aula" ein.

Sie haben eine siebenjährige Tochter. Sprechen Sie mit ihr über Judenhass?

Natürlich. Ich kenne kein jüdisches Kind, das nicht über Judenhass aufgeklärt ist.

Wie machen Sie das, ohne dass Ihr Kind in Angst lebt?

Ich erkläre ihr, dass es Menschen gibt, die andere schlechter machen, damit sie sich selbst besser fühlen können. Ich erkläre, dass die Geschichte leider voll ist von Menschen, die sich als dieses Ziel ausgerechnet Juden gesucht haben. Und ich gehe mit ihr ganz simple Sicherheitsstrategien durch. So, wie man einem Kind beibringt, bevor es über die Straße geht, nach links und rechts zu schauen, bringe ich meiner Tochter bei, nicht überall zu erzählen, dass sie Jüdin ist, oder warum die ­Polizei immer vor der Gemeinde steht, wenn sie zu ihrer Jugendgruppe geht. Ich bin so aufgewachsen und meine Tochter wächst so auf, das gehört zum Jüdischsein dazu.

Haben Sie mit ihr schon über den Holo­caust gesprochen?

Ja, natürlich. Ich selbst war mit sechs Jahren das erste Mal im Kiewer Museum des Großen Vaterländischen Krieges. Ich habe dort Lampen aus Menschenhaut ge­sehen. Es ist ein Museum, das vor allem die Zerstörung der Ukraine durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg zeigt und die Schoah auf dem Territorium der Ukraine dokumentiert. Natürlich wird meine Tochter aufgeklärt. Klar, ich versuche, das kindgerecht zu gestalten, aber sie weiß, dass die Nazis versucht haben, alle Juden zu ermorden.

Lampenschirme aus Menschenhaut – mit sechs Jahren?

Eine unbeschwerte Kindheit ist ein Privileg der Mehrheitsgesellschaft. Aber für Jüdinnen und Juden gilt das nicht. Man hat keine andere Wahl, als sich mit seinen Kindern darüber auseinanderzusetzen. Genauso wie schwarze Familien in den USA mit ihren Kindern über Morde durch Polizisten sprechen müssen und darüber, wie die Kinder sich der Polizei gegenüber verhalten sollen, müssen wir über Antisemitismus sprechen.

Mit sechs Jahren, 1994, zogen Sie mit Ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Wie gut kamen Sie mit dem deutschen Schulsystem klar?

Ich konnte kein Deutsch und keine lateinischen Buchstaben lesen. Ich musste erst mal Buchstabe für Buchstabe lernen. Und danach war es schwierig, weil die Schule ja damals sehr auf Frontalunterricht ausgerichtet war. Darin kam nicht das vor, was in meinem späteren Leben wichtig wurde, nämlich Entscheidungen ­treffen, kreativ Probleme lösen, mich mit anderen austauschen.

Lesen Sie hier ein Interview mit Michel Friedman über Antisemitismus und die deutschen "Schlaraffen"

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, in Schule und Beruf würden wir vor allem autoritäres Denken lernen.

Ja. Wir lernen, Erwartungen zu verstehen und zu erfüllen. Und das hat etwas damit zu tun, woher Schule kommt. Ich glaube nicht, dass sich irgendeine Schulleitung hinsetzt und sagt: Wir wollen autoritär sein. Ich denke, die meisten wollen ihren Schülern guten Unterricht geben. Aber was ist Schule eigentlich? Die Schule ist ein Ort, an dem meine Anwesenheit erzwungen wird. Und zwar zu einer bestimmten Uhrzeit, wenn mein Körper eigentlich noch schlafen will. Ich muss 45 Minuten Mathe lernen und danach 45 Minuten Deutsch. Und dann habe ich 20 Minuten, in denen ich Hunger haben soll, weil Pause ist – und oft muss ich noch fragen, ob ich aufs Klo darf. Es ist also ein Ort, an dem ich selten die Gelegenheit habe, selbst zu gestalten, mich zu fragen: Was will ich eigentlich? ­Sondern wir arbeiten – und zwar sowohl die Schüler als auch die Lehrer – im sehr eng gestrickten Korsett eines Curriculums. Ursprünglich hatte die Schule ja die Funktion, gute Soldaten und gute Fabrikarbeiter auszubilden. Große Teile dieses Systems wurden nie radikal genug hinterfragt.

Marina Weisband: Die neue Schule der Demokratie.
Wilder denken, wirksam handeln. S. Fischer, 176 Seiten, 22 Euro

Hat die AfD ihren Aufstieg dem deutschen Schulsystem zu verdanken?

Ich würde nicht diese direkte Linie ziehen, aber ich würde sagen, dass viele Menschen von der Gegenwart überfordert sind. Viele fühlen sich ohnmächtig, aber wissen auch nicht so richtig, wie sie etwas verbessern können. Manche fühlen sich abgehängt oder können in Berufen der Zukunft nicht mehr arbeiten, weil sie einfach die digitalen Kompetenzen nicht mitbringen. Das ist doch auch auf das Schulsystem zurückzuführen. Und das führt wiederum zu Phänomenen, von denen die AfD dann teilweise profitiert. Wir haben zudem eine gesellschaftliche Vereinsamung, wir haben auch eine sich immer ­weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Da sind ganz viele Faktoren. Aber Bildung ist ein Faktor, an dem man ansetzen kann. Ich weiß, Populismus gedeiht am besten auf dem Boden erlernter Hilflosigkeit. Und wenn ich die Hilflosigkeit ersetze – durch eine Jugend, in der man sich als Gestalter fühlt, in der man verantwortlich für sich und ­andere Schüler ist, dann hat eine AfD keine Schnittmenge mit solchen Leuten.

Deshalb wollen Sie mit der digitalen Bildungsplattform ­"Aula" Schülerinnen und Schüler zu aktiven Demokraten zu erziehen.

Wir geben Schulen einen Koffer mit Material und einem pädagogischen Konzept, das ihnen erlaubt, ihre Schüler ernster zu nehmen, ihnen mehr Macht zu geben und Diskussionen und Debatten mit Hilfe einer Onlineplattform besser zu koordinieren. Es geht vor allem um die Überzeugung, dass man mit seinem Handeln etwas in der Welt verändern kann. Und das ist eine Überzeugung, die Menschen dann erreichen, wenn sie das oft erleben. Aber wenn man das Gefühl hat, es macht doch eh gar keinen Unterschied, was man macht, dann braucht man auch nicht verantwortungsvoll handeln. Dann kann man auch auf dem Schulklo randalieren, dann kann man auch Gewalt anwenden, weil man ja die Welt sowieso nicht wirklich positiv beeinflussen kann. Dieses Ohnmachtsgefühl ist unter jungen Leuten sehr verbreitet, wie eine OECD-Studie gezeigt hat. Viele der deutschen Schülerinnen und Schüler haben das Gefühl, dass sie die Probleme der Welt nicht lösen können. Deutschland und die Slowakei sind in dieser ­Studie die europäischen Schlusslichter.

Lesen Sie hier, wie Lehramtsstudierende lernen, mit Judenhass umzugehen.

Funktioniert die Demokratie­erziehung als Handy-App tatsächlich?

Ja. Die App ist eines der drei Elemente neben den Unterrichtsmaterialien und einem Vertrag, der an der Schule geschlossen wird. Der Vertrag garantiert, dass alles, was über die App abgestimmt wird, verbindlich an der ­Schule gilt. Und die App selbst hilft, eine Diskussion mit der ganzen Schule zu organisieren. Wenn ein Schüler die Idee hat, Basket­ballkörbe auf dem Schulhof zu installieren, ist es ziemlich schwer, das mit der ganzen Schule zu be­sprechen und verschiedene Bedürfnisse abzuwägen, etwa, ob durch die Basketballkörbe jemandem der Platz weggenommen würde. Oder wie man das überhaupt finanziert. Für diese ganze Debatte müsste man ja eigentlich alle Schüler in die physische Aula setzen und diskutieren. Das ist nicht praktikabel. Aber die Onlineplattform erlaubt, dass diese Diskussion mit der ganzen Schule stattfinden kann – und zwar gut sortiert. Dass man die Argumente in der App fein aufgelistet hat, dass man Zeit hat, sie zu bearbeiten und darauf einzugehen. Man soll dann Verantwortliche für das Projekt wählen, nach und nach einen Zeitplan und einen Kostenplan entwickeln und Angebote einholen. Wenn das ausgearbeitet ist, können alle auf der Plattform über die fertige Idee abstimmen.

Bei welchen Themen ist die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am höchsten?

Themen mit sehr hoher Beteiligung waren Fragen nach kostenlosen Menstruationsprodukten auf Toi­letten oder ein Smartphone-Tag, der an einer Schule eingeführt wurde. Am Smartphone-Tag müssen alle Lehrer mit Hilfe von Handys unterrichten. Oder bei Anschaffungen wie einem Getränkeautomaten oder bei ­einer neuen Hausordnung bringen sich sehr viele ein.

Welche Rolle spielen Lehrer dabei?

Lehrer sollen gerade am Anfang ­einer Idee kritische Punkte ­nachfragen. Wer soll für deine Idee verantwortlich sein? Wem hilft deine Idee? Wen könnte deine Idee stören? Lehrer ­haben eine moderierende Funktion, aber sie haben je nach Schule ent­weder gar kein Stimmrecht – oder nur ein einfaches. Denn unser System möchte, dass Schülerinnen und ­Schüler mehr in Verantwortung kommen. Verantwortung kann ja nur lernen, wer Verantwortung übernimmt. Da gibt es keine Trockenschwimm­übungen. "Aula" garantiert Spielräume, in denen Schülerinnen und Schüler dann auch erfahren: Wenn wir hier in der Schule etwas ändern können, dann können wir vielleicht auch was in der Welt verändern.

Was kostet das die Schule?

Wenn wir mit einem kleinen Team über zwei Jahre eine Schule betreuen, kostet uns das etwa 5000 Euro. Das übernehmen komplett oder teilweise Stiftungen, Spenden oder Institu­tionen der Länder, für die Schulen ist es dann deutlich günstiger. "Aula" ist gemeinnützig. Wir machen keinen Gewinn.

Was lässt sich aus Ihrer Demokratie­erziehung auf ältere Menschen übertragen, die ins Rechtsradikale ab­gedriftet sind?

Ich glaube, wenn man schon abge­driftet ist, wenn man ein Leben lang gelernt hat: "Ich kann eh nichts ändern, aber der große, starke Onkel wird es für mich machen" – dann kann man diese Menschen kaum zurück­holen. Ich habe mit vielen solcher Leute zu tun, weil ich aus der Sowjet­union ­stamme. Auch in ­meiner jüdischen ­Familie habe ich AfD-Wähler.

Warum wählen die AfD?

Weil sie aus einem autoritären System kommen und sich keine egalitäre Gesellschaft vorstellen können. Ich kann keine AfD-Wähler von irgendwas überzeugen und erst recht nicht ihre sogenannten Fakten widerlegen. Es hilft nichts, ihnen Migrationsstatis­tiken zu zeigen oder rational über Klimawandel zu sprechen. Sie werden die Quellen leugnen. Sie werden darum kämpfen, ihr Weltbild intakt zu lassen.

Und stattdessen?

Natürlich kann ich mich als linksgrün-versifften Gutmenschen empfinden und die anderen als rechts­radikale Rassisten. Dann gibt es keine gemeinsame Sprache zwischen uns. Aber ich kann uns auch als zwei verunsicherte Menschen sehen. Oder ich kann uns als eine Familie sehen. Ich kann immer eine Gemeinsamkeit finden. Ich glaube, es ist am besten, mit dem radikalisierten Familien­mitglied oder dem radikalisierten Freund persönlich zu sprechen. Aber nicht über die Themen der Radikalisierung, sondern über private Themen. Über Sorgen und Ängste. Man sollte sanft von den Dingen erzählen, die einen umtreiben, aber auch die Geschichten der anderen anhören. Aber nicht ihren Rassismus, ja nicht ihre toxischen Überzeugungen! Das muss man abblocken. Etwa so: Hey, du bist mir willkommen. Dein Rassismus nicht. Er bleibt bitte draußen. Aber du als Mensch bist mir willkommen.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Fahrrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.